Aus der Sicht der fünf Freunde war der Sommer 1985 bis jetzt merkwürdig gewesen. Der Juni, der normalerweise die Zeit war, in der der Sommer Anlauf nahm, war zu kalt gewesen und die Temperaturen erholten sich danach nur schleppend. Jetzt, Anfang August, hatte es plötzlich wieder zu regnen begonnen. Doch an diesem Tag hatte der Regen wieder nachgelassen und die Sonne kämpfte sich durch die Wolken. Das war ein Glück, denn sonst hätten sich die Freunde an diesem Tag vielleicht gar nicht gesehen.

Die Wiese im Strandbad war noch leicht feucht, aber die Sonnenstrahlen kämpften mit aller Macht, diesen Zustand zu ändern. Es wurde auch langsam warm, wenngleich die Wolken genauso heftig kämpften, um zu starken Sonnenschein zu verhindern. Das Strandbad war ein öffentliches Bad am Bodenseeufer, es war zwar klassisch, aber ansonsten fiel es nicht besonders auf. Es war sehr beliebt bei den Einheimischen, die meisten von ihnen besaßen eine Saisonkarte, mit der sie für einen Sommer lang freien Eintritt ins Bad hatten.

Das Kassenhäuschen versprühte mit dem in Frakturschrift geschriebenen Schild „Kasse“ den Charme vergangener Zeiten, wie auch der ganze Bau. Es war wirklich ein kleines Häuschen aus Holz mit Dach. Direkt an das Kassenhäuschen schloss sich ein lang gezogenes Gebäude mit Umkleidekabinen und Spinden an. Außerdem gab es zwei Durchgänge, die breit genug waren, dass sich unter dem einen Durchgang eine Tischtennisplatte, unter dem anderen ein Tischfußballspiel befand. Zu beiden Seiten des Gebäudes befanden sich freie Duschen, deren Wasser nicht beheizt war.

Wenn man durch den Eingang hereinkam, befand sich rechts des Gastes ein weiteres, langgezogenes Gebäude, das allerdings parallel zu dem Zaun stand, der das Strandbad von der Straße abgrenzte. In diesem Gebäude waren ein Imbiss, ein Kiosk, ein Lagerraum und der Behandlungsraum der DLRG untergebracht.

Zwischen dem Zaun an der Straße dem See war eine Liegewiese angelegt. Auf der einen Seite des Bades reichte diese Liegewiese fast bis zum See, lediglich die letzten Meter waren Sandstrand. Auf der anderen Seite endete die Liegewiese nach ungefähr sieben oder acht Metern und ging in einen großen Sandstrand über. Hier befand sich auch ein Spielplatz und natürlich weitere Duschen.

Das Strandbad wurde so ungefähr auf der Mitte durch einen Steg geteilt, der ungefähr zehn oder zwölf Meter ins Wasser hinausging. Der Steg bestand aus Segmenten. Das erste Segment war ein Holzsteg, der auf großen Holzpfählen ruhte. Dann schloss sich eine Art Brücke an, die diesen Teil des Stegs mit einer Plattform verband, die zwar auch an großen Pfählen angebracht war, aber schwimmend konstruiert worden war. Damit passte sich die Plattform dem Wasserstand des Sees an. Entsprechend waren der Steck und die Brücke mit Geländern ausgestattet, die Plattform nicht. Von ihr aus konnte man in den See springen. Je nach Wasserstand war das Wasser dort zwischen einen Meter sechzig und zwei Meter fünfzig tief. Am Steg befestigt waren zudem die Rettungsboote der DLRG.

Außerdem gab es noch zwei Schwimmplattformen, die sich zu beiden Seiten des Stegs im Wasser befanden. Das Wasser war durch ein mit roten und weißen Schwimmern versehenes Seil in einem Nichtschwimmer- und einen Schwimmerbereich eingeteilt. Im Schwimmerbereich fand man die beiden Plattformen. Sie waren mit Leitern versehen, man konnte auf sie klettern, sich ausruhen oder wieder ins Wasser springen.

Zum Springen gab es aber auch noch einen Sprungturm mit zwei Sprungbrettern, der sich in der Nähe einer der so genannten „Halden“ befand. Die Halden waren eine Besonderheit des Bodensees. Der See nahm nicht kontinuierlich an Tiefe zu, sondern der Grund wurde erst langsam tiefer, bis plötzlich eine Kante mit einer Steilwand kam, die um zwanzig Meter nach unten ging. Über mehrere Halden ging es so bis zur Mitte des Teils des Bodensees, der „Überlinger See“ genannt wurde. Deswegen war dieser Teil des Sees bis zu 147 Meter tief.

Drei der fünf Freunde hatten sich schon im Strandbad eingefunden, so wie sie es in den Sommerferien fast jeden Tag taten. Mac Simum, Melville Gannett und Dan O’Neil lagen auf ihren Handtüchern auf der großen Liegewiese und unterhielten sich. Auf der Liegewiese standen ein paar alte Bäume, die Schatten spendeten, um einen solchen hatten sie sich ausgebreitet.
„Der Regen ist nicht gut für die Wassertemperatur“, sagte Melville. „Und der Wind mischt den See noch dazu auf.“
„Hat einer von Euch auf die Wassertemperatur geachtet, als wir ins Strandbad kamen?“, wollte Dan wissen.
Die anderen beiden schüttelten ihre Köpfe. „War doch egal“, warf Mac ein, „wir sind hier und wenn Jack da ist, können wir ja versuchen, ins Wasser zu kommen.“
Sie unterhielten sich weiter. Die Freunde waren ziemlich genau im selben Alter, sie waren oder wurden in diesem Jahr 15. Aber sie waren nicht die typischen Teenager. Sie interessierten sich für Dinge, die ihre Klassenkameraden merkwürdig fanden. Wissenschaft und so’n Kram. Ist ja wie in der Schule. Nur freiwillig. Iiiiiiiih. Solche Kommentare bekamen sie ständig ab. Aber nicht von allen. Wenigstens das. Doch die anderen Freunde waren an diesem Tag nicht im Strandbad. Es war ihnen nicht warm genug gewesen.

„Hey!“, sagte Mac auf einmal, „schaut mal, wer da kommt.“
Jack näherte sich der Gruppe. Er trug kurze Hosen, ein T-Shirt und eine Badetasche, die an einem Riemen über seiner Schulter hing.
„Hey, Leute“, sagte er. „Da bin ich!“
„Du hast Dich verspätet“, tadelte Dan, „fast hätten wir versuchen müssen, ohne Dich ins Wasser zu kommen.“
„Tut mir leid“, erwiderte Jack, während er seine Tasche ablegte, sie öffnete und nach einem Handtuch suchte. „Ich habe noch mit Big T telefoniert.“
„Was?“, meinte Melville. „So früh am Tag?“
Jack hatte endlich das Handtuch gefunden. Er breitete es auf dem Rasen aus. Dann begann er, sich auszuziehen. Er hatte seine Badehose unter die kurze Hose gezogen, also brauchte er keine Umkleidekabine.
„Ja“, erklärte er währenddessen. „Seine Familie und er haben heute irgendwas vor und er weiß nicht, ob er heute Abend telefonieren kann. Aber es war ihm irgendwie wichtig.“
„Was war ihm wichtig?“, fragte Mac.
„Wir haben doch immer schon davon gesprochen, dass wir was zusammen machen wollen. Unser Projekt. Einen kleinen Club mit einem Magazin über alles, was es wert ist, zu berichten. Über die schönen Orte auf unserem Planeten.“
„Ja?“, hakte Melville ein. „Wir haben auch schon festgestellt, dass wir’s eine tolle Idee fänden. Und?“
„Er hat gemeint, dann sollten wir’s auch durchziehen. Nicht immer nur vorstellen, dass wir es tun, sondern auch machen.“
Mac seufzte. „Er hat recht“, bestätigte er. „Träumereien bringen das alles nicht vorwärts. Aber wollten wir nicht mit Professor Hoaxley reden, wenn die Schule wieder angefangen hat.“
„Big T hat gesagt, dass Hoaxley uns mit Sicherheit unterstützen wird“, sagte Jack. „Ich finde, er hat recht. Wie wär’s, wenn wir einfach mal anfangen und sehen, was draus wird? Man kann Sachen auch überplanen.“
Die anderen nickten. „Klingt gut“, fasste Melville zusammen. „Und wenn wir heute damit anfangen, haben wir auch einen neuen Spitznamen für Big T.“
„Was?“, wollte Jack wissen. „Wieso das?“
„Weil er damit der G.I. ist, der glorreiche Initiator! Oder etwa nicht?“
Jack schmunzelte. „Ja, genau. Er ist noch die mindestens die Woche mit seiner Familie in Ferien. Wenn er wieder da ist, haben wir vielleicht schon mehr für das Projekt.“
„A propros – wie heißt das Projekt?“, fragte Melville.
„Ist doch egal!“, antwortete Mac. „Hauptsache, wir haben einen Anfang. Und auch wenn wir Professor Hoaxley erst nach den Ferien wiedersehen, wir können vorher ja mal wieder bei Opa Mentor vorbeischauen. Der freut sich bestimmt über den Besuch und kann uns vielleicht ein paar Tipps geben, wie und was wir machen können. Einverstanden?“
Die Jungs nickten heftig.
„Und jetzt“, sagte Dan, „geht es in den See! Aber seeeeeehr langsam!“

Auf dem Weg über den Sandstrand in Richtung des Wassers blieb Jack auf einmal stehen. Er sah herüber zu dem Gebäude mit den Umkleidekabinen.
„Was hast Du denn?“, fragte Melville.
„Da drüben, da ist gerade eine Person aus einer Umkleidekabine gekommen“, antwortete Jack.
„Ja und?“
„Ich könnte schwören, ich habe diese Person nicht in die Kabine reingehen sehen.“
„Ach Quatsch! Du siehst Gespenster. Komm lieber, nach dem Schwimmen holen wir uns jeder ’ne Cola und stoßen auf das neue Projekt an!“

Damit gingen sie ins Wasser. Sie ahnten nicht, was damit begonnen hatte…